30.07.2025
Citizen Science macht regionale Geschichte sichtbar
Wenn wir heutzutage plötzlich ärztliche Hilfe benötigen, genügt meist ein Griff zum Telefon: Der Notruf 144 ist jederzeit erreichbar. Noch vor wenigen Jahrzehnten war das undenkbar. Das Projekt «Medizin im Dorf» vermittelt am Beispiel der Region Surselva, wie sehr sich die medizinische Versorgung im ländlichen Raum während den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Entstanden ist eine digitale Sammlung von Podcasts und Texten, die auf der Website www.medizin-im-dorf.ch präsentiert werden.
Das Institut für Kulturforschung beauftragte die Geschichtswissenschaftlerin Loretta Seglias mit der Leitung des Projekts. Sie erklärt die besondere Herangehensweise an das Thema: «Wir haben uns für einen Citizen-Science-Ansatz entschieden. Das bedeutet, dass interessierte Menschen auch ohne formale Forschungsausbildung mitwirken – nicht nur als Auskunftsgeberinnen und -geber, sondern als Mitforschende. Für mich ist es dabei sehr wichtig, dass die Beteiligten mitentscheiden können: Welche Themen sollen untersucht werden? Wer wird interviewt? Welche Fragen werden gestellt?»
Da es nicht so einfach ist, interessierte Laienforscherinnen und -forscher zu finden, suchte Seglias nach einem Kooperationspartner mit einem breiten, regionalen Netzwerk. Diesen fand sie mit dem Museum Regiunal Surselva in Ilanz. Dessen Leiterin Ursina Jecklin liess sich sofort für das Thema begeistern. Im Sommer 2023 konnte an einem Informationsanlass im Museum eine erste Gruppe von Geschichtsdetektivinnen und -detektiven gewonnen werden. An diesem Treffen entstanden bereits erste Interviewideen.
Bevor die Geschichtsdetektivinnen und -detektive ihre, wohlgemerkt, ehrenamtliche Arbeit aufnahmen, erlernten sie in einem Workshop Interviewtechniken und den Umgang mit Aufnahmegeräten. Sie widmeten sich auch rechtlichen Fragen und dem Umgang mit Quellen. In ihren Gesprächen rückten sie ganz unterschiedliche Aspekte der medizinischen Versorgung ins Licht.
Eine dieser Stimmen ist Florentina Camartin: Im Interview schildert sie den Arbeitsalltag ihrer Mutter, Ludivina Camartin. 1936 begann Ludivina als zwanzigjährige in Brigels ihre Arbeit als Hebamme. Sie versorgte die Schwangeren – auch in entlegenen Gegenden – zunächst mit dem Velo, später mit der Vespa und ab den 1960er-Jahren mit dem Auto. Aber auch zuhause kamen häufig Menschen vorbei, die medizinischen Rat suchten.
Da ist die Geschichte der Familie Camenisch, die beim Tannenzapfen sammeln im Wald an Tuberkulose erkrankte. Clieci Camenisch erinnert sich, wie er mit seinen Geschwistern und seiner Mutter 1952 für zwei Jahre zur Kur nach Davos geschickt wurde. Getrennt von der Mutter, verbrachten die Kinder ihre Tage grösstenteils mit Liegekuren. Sie durften selten spielen noch ihre Muttersprache Rätoromanisch sprechen. Der Vater und weitere Geschwister bewirtschafteten derweil den Bauernhof im Lugnez allein. Weitere Interviews beleuchten die Entstehung der Krankenkassen und die Entwicklung der ambulanten Krankenpflege. Bis September folgen auf der Webseite neue Beiträge. Sie greifen unter anderem das Thema psychische Gesundheit auf und gehen der Frage nach, wie man hundert Jahre alt werden kann.
Institut für Kulturforschung Graubünden, Chur
Reichsgasse 10
7000 Chur